Wie der
Kutscher Salim sitzend zu
seinen Geschichten kam und
sie unendlich lang frisch halten konnte.
Es ist schon eine seltsame Geschichte: Der Kutscher Salim wurde stumm.
Wäre sie nicht vor meinen Augen geschehen, ich hätte sie für übertrieben
gehalten. Sie begann im August 1959 im alten Viertel von Damaskus.
Wollte ich eine ähnlich unglaubliche Geschichte erfinden, so wäre
Damaskus der beste Ort dafür. Nirgendwo anders als in Damaskus könnte
sie spielen.
Unter den Einwohnern von Damaskus gab es zu jener Zeit
seltsame Menschen. Wen wundert das bei einer alten Stadt? Man sagt,
wenn eine Stadt über tausend Jahre ununterbrochen bewohnt bleibt,
versieht sie ihre Einwohner mit Merkwürdigkeiten, die sich in den
vergangenen Epochen angesammelt haben. Damaskus blickt sogar auf ein
paar tausend Jahre zurück. Da kann man sich vorstellen, was für
sonderbare Menschen in den verwinkelten Gassen dieser Stadt herumlaufen.
Der alte Kutscher Salim war der merkwürdigste unter ihnen. Er war klein
und schmächtig, doch seine warme und tiefe Stimme ließ ihn leicht als
einen großen Mann mit breiten Schultern erscheinen, und schon zu
Lebzeiten wurde er zur Legende, was nicht viel heißen will in einer
Stadt, wo Legenden und Pistazienrollen nur zwei von tausendundeiner
Spezialität sind.
Durch die vielen Putsche der fünfziger Jahre
verwechselten die Bewohner des alten Viertels die Namen von Ministern
und Politikern nicht selten mit denen von Schauspielern und anderen
Berühmtheiten. Aber für alle gab es im alten Stadtviertel nur diesen
einen Kutscher Salim, der solche Geschichten erzählen konnte, dass die
Zuhörer lachen und weinen mussten..
Unter den merkwürdigen Menschen hatten einige für
jedes Geschehen ein passendes Sprichwort parat. Doch es gab nur einen
Mann in Damaskus, der zu allem eine Geschichte wusste, ob man sich nun
in den Finger geschnitten, sich eine Erkältung geholt oder unglücklich
verliebt hatte. Wie aber wurde der Kutscher Salim zum bekanntesten
Erzähler in unserem Viertel? Die Antwort auf diese Frage ist, wie nicht
anders zu erwarten, eine Geschichte.
Salim war in den dreißiger Jahren Kutscher und fuhr
die Strecke zwischen Damaskus und Beirut. Damals brauchten die Kutscher
zwei anstrengende Tage für die Fahrt. Zwei gefährliche Tage waren es,
weil die Strecke durch die zerklüftete »Hornschlucht« führte, wo es von
Räubern nur so wimmelte, die ihr Brot damit verdienten, Vorbeifahrende
auszurauben.
Die Kutschen waren kaum voneinander zu unterscheiden.
Sie waren aus Eisen, Holz und Leder gebaut und boten Platz für vier
Fahrgäste. Der Kampf um die Fahrgäste war unbarmherzig; nicht selten
entschied die härtere Faust, und die Gäste mussten, noch bleich vor
Schreck, in die Kutsche des Siegers umsteigen. Auch Salim kämpfte, doch
selten mit der Faust. Er setzte seine List und seine unbesiegbare Zunge
ein.
Zur Zeit der Wirtschaftskrise, als die Anzahl der
Fahrgäste immer weniger wurde, musste sich der gute Salim etwas
einfallen lassen, um seine Familie durchzubringen. Er hatte eine Frau,
eine Tochter und einen Sohn zu ernähren. Die Raubüberfälle mehrten sich,
weil viele verarmte Bauern und Handwerker in die Berge flüchteten und
ihr Brot als Wegelagerer verdienten. Salim versprach den Fahrgästen
leise: »Mit mir kommt ihr ohne jede Schramme und mit demselben
Geldbeutel an, den ihr bei der Abfahrt hattet« Das konnte er
versprechen, weil er zu vielen Räubern gute Beziehungen unterhielt.
Unbehelligt fuhr er immer wieder von Damaskus nach Beirut und zurück.
Erreichte er das Gebiet eines Banditen, so ließ er - von den Fahrgästen
unbemerkt - mal etwas Wein, mal etwas Tabak am Straßenrand zurück und
der Räuber winkte ihm freundlich zu. Er wurde nie überfallen. Aber nach
einer Weile sickerte das Geheimnis seines Erfolges durch und alle
Kutscher machten es ihm nach. Auch sie hinterließen Gaben am Straßenrand
und durften friedlich weiterfahren. Salim erzählte, das sei so weit
gegangen, dass aus den Räubern fette, träge Sammler wurden, die
niemandem mehr Angst einjagen konnten.
Die Aussicht auf sicheren Schutz vor Räubern lockte
also bald keinen Fahrgast mehr in seine Kutsche. Salim überlegte
verzweifelt, was er tun könnte. Eines Tages brachte ihn eine alte Dame
aus Beirut auf die rettende Idee. Während der Fahrt erzählte er ihr
ausführlich die Abenteuer eines Räubers, der sich ausgerechnet in die
Tochter des Sultans verliebt hatte. Salim kannte den Räuber persönlich.
Als die Kutsche am Ende der Reise in Damaskus hielt, soll die Frau
gerufen haben: »Gott segne deine Zunge, junger Mann. Die Zeit mit dir
war viel zu kurz.« Salim nannte diese Frau seine »Glücksfee«, und von
nun an versprach er den Fahrgästen, vom Beginn der Reise bis zur Ankunft
Geschichten zu erzählen, so dass sie die Mühen der Reise gar nicht
spüren würden. Das war seine Rettung; denn kein anderer Kutscher konnte
so gut erzählen wie er.
Wie schaffte es aber der alte Fuchs, der nicht lesen
und schreiben konnte, immer wieder neue und frische Geschichten zu
erzählen? Ganz einfach! Wenn die Fahrgäste ein paar Geschichten gehört
hatten, fragte er beiläufig: »Kann jemand von euch auch eine Geschichte
zum Besten geben?« Da gab es unter den Leuten immer wie der jemanden,
einen Mann oder eine Frau, der antwortete: »Ich kenne eine unglaubliche
Geschichte. Sie ist aber bei Gott wahr!« Oder: »Na, ja, ich kann nicht
gut erzählen, doch ein Schäfer hat mir einst eine Geschichte erzählt,
und wenn die Herrschaften mich nicht auslachen, würde ich sie gern
erzählen.« Und natürlich er munterte Kutscher Salim jeden, seine
Geschichte zu erzählen. Er würzte sie später nach und erzählte sie den
nächsten Fahrgästen. So war sein Vorrat immer frisch und unerschöpflich.
Stundenlang konnte der alte Kutscher die Zuhörer mit
seinen Geschichten verzaubern. Er erzählte von Königen, Feen und Räubern
und er hatte in seinem langen Leben viel erlebt. Ob er heitere,
traurige oder spannende Geschichten erzählte, seine Stimme verzauberte
jeden. Sie brachte nicht nur Trauer, Zorn und Freude hervor, es wurden
sogar Wind, Sonne und Regen für uns spürbar. Wenn Salim zu erzählen
anfing, segelte er in seinen Geschichten wie eine Schwalbe. Er flog über
Berge und Täler und kannte alle Wege von unserer Gasse bis nach Peking
und zurück. Wenn es ihm gefiel, landete er auf dem Berg Ararat - und
sonst nirgends - und rauchte seine Wasserpfeife.
Hatte der Kutscher keine Lust zu fliegen, so
durchstreifte er in seinen Erzählungen die Meere der Erde wie ein junger
Delphin. Wegen seiner Kurzsichtigkeit begleitete ihn auf seinen Reisen
ein Bussard und lieh ihm seine Augen.
So schmächtig und klein er auch war, in seinen
Erzählungen bezwang Salim nicht nur Riesen mit funkelnden Augen und
furchterregenden Schnurrbärten, er schlug auch Haifische in die Flucht
und fast auf jeder Reise kämpfte er mit einem Ungeheuer.
Seine Flüge waren uns vertraut wie das anmutige Segeln
der Schwalben am blauen Himmel von Damaskus. Wie oft stand ich als Kind
am Fenster und schwebte in Gedanken wie ein Mauersegler über unseren
Hof. Diese Flüge haben mir damals kaum Angst bereitet. Aber ich zitterte
mit den anderen Zuhörern vor den Kämpfen, die Salim mit den Haifischen
und anderen Meeresungeheuern zu bestehen hatte.
Mindestens einmal im Monat verlangten die Nachbarn von
dem alten Kutscher, er solle die Geschichte vom mexikanischen Fischer
erzählen. Salim erzählte diese Geschichte besonders gern. Darin schwamm
er gerade friedlich und munter wie ein Delphin im Golf von Mexiko, als
ein bösartiger Krake ein winziges Fischerboot angriff. Das Boot
kenterte. Der Krake fing an, den Fischer mit seinen Armen zu
umschlingen. Beinahe hätte er ihn erwürgt, wenn ihm Salim nicht zu Hilfe
geeilt wäre. Der Fischer weinte vor Freude und schwor bei der heiligen
Maria, wenn seine schwangere Frau einen Jungen zur Welt brächte, würde
er ihn Salim nennen. - Hier hielt der alte Kutscher in seiner Erzählung
immer inne, um zu prüfen, ob wir wachsam zugehört hatten.
»Ja, und was wäre gewesen, wenn sie ein Mädchen
geboren hätte?«, musste die Frage lauten. Der alte Kutscher lächelte
zufrieden, zog an seiner Wasserpfeife und strich über seinen grauen
Schnurrbart. »Er hätte das Mädchen dann natürlich Salime genannt«,
lautete seine Antwort immer. [...]
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